Das isolierte Ich leidet endlos, "weil das Leben Schmerz ist und die genossene Liebe ein Anästhetikum." *
"Die Liebe ist die billigste der Religionen." *
Wir streben heute nach dem Leben des Körpers und weisen die asketischen Traditionen des Judentums und des Christentums zurück; aber wir sind nach wie vor befangen in der Erlebnisweise, die diese religiöse Tradition uns hinterlassen hat. Deshalb klagen wir; wir resignieren und sind gleichgültig; wir klagen.
Wenn die alten Hebräer und Griechen und die Orientalen der Liebe nicht den gleichen Wert beimessen wie wir, so deshalb, weil bei ihnen das Leiden nicht den gleichen positiven Wert hat. Für sie war nicht Leiden das Kennzeichen der Ernsthaftigkeit.
Seit zweitausend Jahren gilt bei Christen und Juden das Leiden als das Zeichen geistiger Modernität. Daher ist es nicht die Liebe, die wir überbewerten: wir überschätzen das Leiden, genauer gesagt, den Wert und den Nutzen des Leidens.
Der Beitrag der Moderne zu dieser christlichen Vorstellung besteht in der Entdeckung, daß die Schaffung von Kunstwerken und das Wagnis der sexuellen Liebe die beiden reinsten Quellen des Leidens sind. Das ist es, was wir im Schriftstellertagebuch suchen, und das ist es denn auch, was Paveses Tagebücher in beunruhigender Fülle bieten.
(Susan Sontag, Kunst und Antikunst/ Der Künstler als exemplarischer Leidender [1962])
(* Cesare Pavese: Das Handwerk des Lebens. Tagebuch 1935-1950.)
M_F - 2009-08-09 21:44
August Sander hat eine Reihe von Köpfen zusammengestellt, die der gewaltigen, physiognomischen Galerie, die ein Einstein oder Pudowskin eröffnet haben, in gar nichts nachsteht, und er tat es unter wissenschaftlichem Gesichtspunkt. "Sein Gesamtwerk ist aufgebaut in sieben Gruppen, die der bestehenden Gesellschaftsordnung entsprechen
(...)
Der Autor ist an diese ungeheure Aufgabe nicht als Gelehrter herangetreten, nicht von Rassentheoretikern oder Sozialforschern beraten, sondern, wie der Verlag sagt "aus unmittelbarer Beobachtung." Sie ist bestimmt eine sehr vorurteilslose, ja kühne, zugleich aber auch zarte gewesen, nämlich im Sinn des Goetheschen Wortes: "Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird."
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Über Nacht könnte Werken wie dem von Sander eine unvermutete Aktualität zuwachsen. Machtverschiebungen, wie sie bei uns fällig geworden sind, pflegen die Ausbildung, Schärfung der physiognomischen Auffassung zur vitalen Notwendigkeit werden zu lassen. Man mag von rechts kommen oder von links - man wird sich daran gewöhnen müssen, darauf angesehen zu werden, woher man kommt. Man wird es, seinerseits, den anderen anzusehen haben.
(Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, 1931, S.59/60)
M_F - 2008-09-03 10:29
Hatte man vordem vielen vergeblichen Scharfsinn an die Entscheidung der Frage gewand, ob die Photographie eine Kunst sei - ohne die Vorfrage sich selbst gestellt zu haben: ob nicht durch die Erfindung der Photographie der Gesamtcharakter der Kunst sich verändert habe - so übernahmen die Filmtheoretiker bald die entsprechende voreilige Fragestellung.
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Es ist sehr lehrreich zu sehen, wie das Bestreben, den Film der "Kunst" zuzuschlagen, diese Theoretiker nötigt, mit einer Rücksichtslosigkeit ohnegleichen kultische Elemente in ihn hineinzuinterpretieren.
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Dem Film kommt es viel weniger darauf an, daß der Darsteller dem Publikum einen anderen, als daß er der Apparatur sich selbst darstellt.
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"Der Filmdarsteller", schreibt Pirandello, "fühlt sich wie im Exil. Exiliert nicht nur von der Bühne, sondern von seiner eigenen Person. Mit einem dunklen Unbehagen spürt er die unerklärliche Leere, die dadurch entsteht, daß sein Körper zur Ausfallerscheinung wird, daß er sich verflüchtigt und seiner Realität, seines Lebens, seiner Stimme und der Geräusche, die er verursacht, indem er sich rührt, beraubt wird, um sich in ein stummes Bild zu verwandeln, das einen Augenblick auf der Leinwand zittert und sodann in der Stille verschwindet... Die kleine Apparatur wird mit seinem Schatten vor dem Publikum spielen; und er selbst muß sich begnügen, vor ihr zu spielen." Man kann den gleichen Tatbestand folgendermaßen kennzeichnen: zu ersten Mal - und das ist das Werk des Films - kommt der Mensch in die Lage, zwar mit seiner ganzen lebendigen Person aber unter Verzicht auf deren Aura wirken zu müssen. Denn die Aura ist an sein Hier und Jetzt gebunden. Es gibt kein Abbild von ihr.
(Walter Benjamin - Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit)
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Die letzte Entwicklung sieht Arnheim 1932 darin, "den Schauspieler wie ein Requisit zu behandeln, das man charakteristisch auswählt und ... an der richtigen Stelle einsetzt."
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Wenn der Schauspieler zum Requisit wird, so fungiert auf der anderen Seite das Requisit nicht selten als Schauspieler. Jedenfalls ist es nichts Ungewöhnliches, daß der Film in die Lage kommt, dem Requisit eine Rolle zu leihen. Anstatt beliebige Beispiele aus einer unendlichen Fülle herauszugreifen, halten wir uns an eines von besonderer Beweiskraft. Eine in Gang befindliche Uhr wird auf der Bühne immer nur störend wirken. Ihre Rolle, die Zeit zu messen, kann ihr auf der Bühne nicht eingeräumt werden.
(Walter Benjamin, ebd.)
M_F - 2008-07-31 19:38
In 1974, I went to Mexico to visit my brother who was working as an anthropologist with Tsutsil Indians, the last surviving Mayan tribe. And the Tsutsil speak a lovely birdlike language and are quite tiny physically; I towered over them. Mostly, I spent my days following the women around since my brother wasn’t really allowed to do this. We got up at 3am and began to separate the corn into three colors. And we boiled it, ran to the mill and back, and finally started to make the tortillas. Now all the other women’s tortillas were 360°, perfectly toasted, perfectly round; and after a lot of practice mine were still lobe-sided and charred. And when they thought I wasn’t looking they threw them to the dogs.
After breakfast we spent the rest of the day down at the river watching the goats and braiding and unbraiding each other’s hair. So usually there wasn’t that much to report. One day the women decided to braid my hair Tsutsil-style. After they did this I saw my reflection in a puddle. I looked ridiculous but they said, “Before we did this you were ugly, but now maybe you will find a husband.”
I lived within in a yurt, a thatched structure shaped like a cob cake. And there’s a central fireplace ringed by sleeping shelves sort of like a dry beaver down. Now my Tsutsil name was Lausha, which loosely translated means “the ugly one with the jewels”. Now ugly, OK, I was awfully tall by local standards. But what did they mean by the jewels? I didn’t find out what this meant until one night, when I was taking my contact lenses out, and since I’d lost the case I was carefully placing them on the sleeping shelf; suddenly I noticed that everyone was staring at me and I realized that none of the Tsutsil had ever seen glasses, much less contacts, and that these were the jewels, the transparent, perfectly round, jewels that I carefully hid on the shelf at night and then put for safekeeping into my eyes every morning.
So I may have been ugly but so what? I had the jewels.
Full fathom thy father lies
Of his bones are coral made
Those are pearls that were his eyes
Nothing of him that doth fade
But that suffers a sea change
Into something rich and strange
And I alone am left to tell the tale
Call me Ishmael
M_F - 2008-07-24 13:59
"Das ist wirklich eine sehr, sehr kleine Bühne."
"Ja, sogar die Musik ist leise."
M_F - 2008-05-11 18:39
„Ich sehe im Multi-Kulti-Geschwärme meiner alternativen Zeitgenossen die seitenverkehrte Version des Rassendünkels von gestern.“
(Wolf Biermann)
M_F - 2008-04-12 23:01