Sonntag, 2. März 2008

haiku, endlos (ausschnitt)

eins zwei drei vier fünf
sechs sieben acht neun zehn elf
zwölf dreizehn vierzehn

fünfzehn sechzehn sieb
zehn achtzehn neunzehn zwanzig
einundzwanzig zwei

undzwanzig dreiund
zwanzig vierundzwanzig fünf
undzwanzig sechsund

zwanzig siebenund
zwanzig achtundzwanzig neun
undzwanzig dreißig

einunddreißig zwei
unddreißig dreiunddreißig
vierunddreißig fünf

Sonntag, 17. Februar 2008

Aus: Der kleine Herr Friedemann, von Thomas Mann

Er setzte sich an den Schreibtisch am offenen Fenster und starrte geradeaus auf eine große, gelbe Rose, die jemand ihm dort ins Wasserglas gestellt hatte. Er nahm sie und atmete mit geschlossenen Augen ihren Duft; aber dann schob er sie mit einer müden und traurigen Gebärde beiseite. Nein, nein, das war zu Ende! Was war ihm noch solcher Duft? Was war ihm noch alles, was bis jetzt sein "Glück" ausgemacht hatte?...

Aus: Die Angst de Tormanns beim Elfmeterschießen, Peter Handke

"Zurück am Naschmarkt, beim Anblick der unordentlich gestapelten leeren Obst-und Gemüsekisten hinter den Ständen, kam es ihm wieder vor, als ob die Kisten eine Art Spaß seien, nicht ernst gemeint. Wie Witze ohne Worte! dachte Bloch, der gerne Witze ohne Worte anschaute. Dieser Eindruck von Verstellung und Getue - "dieses Getue mit der Schiedsrichterpfeife im Seesack!" dachte Bloch - (...)"

Aus: Mario und der Zauberer, von Thomas Mann

"Deiner Erziehung in Ehren, aber meiner Meinung nach wirst du jetzt, ehe ich bis drei zähle, eine Rechtswendung ausführen und der Gesellschaft die Zunge herausstrecken, länger, als du gewußt hattest, daß du sie herausstrecken könntest."
Er sah ihn an, wobei seine stechenden Augen tiefer in die Höhlen zu sinken schienen. "Uno", sagte er und ließ seine Reitpeitsche, deren Schlinge er vom Arme hatte gleiten lassen, einmal kurz durch die Luft pfeifen. Der Bursche machte Front gegen das Publikum und streckte die Zunge so angestrengt -überlang heraus, daß man sah, es war das Äußerste, was er an Zungenlänge nur irgend zu bieten hatte. Dann nahm er mit nichtssagendem Gesicht wieder seine frühere Stellung ein.

Donnerstag, 31. Januar 2008

halbschlafgedicht I - Elfriede Gerstl

wie ein kleines herz
klopft die swatch
an meiner hand
ich will schlafen
ich verstecke sie
unter der decke
etwas von mir - ein ich-teilchen
lässt sich vom wind
wegtragen - wegschaukeln
schnee fällt in meinen halbschlaf
etwas von mir fliegt in den flocken
von der salztorbrücke
über die treppe zur
ruprechtskirche
ich fühle
wie ich mich verstreue

Lied vom Kindsein - Peter Handke

Als das Kind Kind war,
ging es mit hängenden Armen,
wollte der Bach sei ein Fluß,
der Fluß sei ein Strom,
und diese Pfütze das Meer.

Als das Kind Kind war,
wußte es nicht, daß es Kind war,
alles war ihm beseelt,
und alle Seelen waren eins.

Als das Kind Kind war,
hatte es von nichts eine Meinung,
hatte keine Gewohnheit,
saß oft im Schneidersitz,
lief aus dem Stand,
hatte einen Wirbel im Haar
und machte kein Gesicht beim fotografieren.

Als das Kind Kind war,
war es die Zeit der folgenden Fragen:
Warum bin ich ich und warum nicht du?
Warum bin ich hier und warum nicht dort?
Wann begann die Zeit und wo endet der Raum?
Ist das Leben unter der Sonne nicht bloß ein Traum?
Ist was ich sehe und höre und rieche
nicht bloß der Schein einer Welt vor der Welt?
Gibt es tatsächlich das Böse und Leute,
die wirklich die Bösen sind?
Wie kann es sein, daß ich, der ich bin,
bevor ich wurde, nicht war,
und daß einmal ich, der ich bin,
nicht mehr der ich bin, sein werde?

Als das Kind Kind war,
würgte es am Spinat, an den Erbsen, am Milchreis,
und am gedünsteten Blumenkohl.
und ißt jetzt das alles und nicht nur zur Not.

Als das Kind Kind war,
erwachte es einmal in einem fremden Bett
und jetzt immer wieder,
erschienen ihm viele Menschen schön
und jetzt nur noch im Glücksfall,
stellte es sich klar ein Paradies vor
und kann es jetzt höchstens ahnen,
konnte es sich Nichts nicht denken
und schaudert heute davor.

Als das Kind Kind war,
spielte es mit Begeisterung
und jetzt, so ganz bei der Sache wie damals, nur noch,
wenn diese Sache seine Arbeit ist.

Als das Kind Kind war,
genügten ihm als Nahrung Apfel, Brot,
und so ist es immer noch.

Als das Kind Kind war,
fielen ihm die Beeren wie nur Beeren in die Hand
und jetzt immer noch,
machten ihm die frischen Walnüsse eine rauhe Zunge
und jetzt immer noch,
hatte es auf jedem Berg
die Sehnsucht nach dem immer höheren Berg,
und in jeder Stadt
die Sehnsucht nach der noch größeren Stadt,
und das ist immer noch so,
griff im Wipfel eines Baums nach den Kirschen in einem Hochgefühl
wie auch heute noch,
eine Scheu vor jedem Fremden
und hat sie immer noch,
wartete es auf den ersten Schnee,
und wartet so immer noch.

Als das Kind Kind war,
warf es einen Stock als Lanze gegen den Baum,
und sie zittert da heute noch.

Dienstag, 15. Januar 2008

Haiku

Hama daham a
Mama daham hama a
Mamahamaham

http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,528504,00.html

Montag, 27. August 2007

Frau

Meine Oma ist nach dem Krieg von Kolberg (das heute zu Polen gehört, und Kolobrzeg heißt) mit ihrer Schwester und ihrer Mutter nach Niedersachsen geflüchtet.
Der jüngere Bruder, Heinz, ging nach Kanada, Gertrud, die Zweitälteste nach Schweden.
Eine ihrer Cousinen bekam 2 Kinder von Russen, die sie zur Adoption freigab.
Meine Oma, die jüngste Schwester und ihre Mutter wurden in einem Flüchtlingsheim untergebracht. Später wohnten sie bei Bauern.
In demselben Dorf lebte mein Großvater. Sein Name war Dragoljub Oručević. Er war Serbe, und arbeitet auf dem nahegelegenen Militärflughafen. Er hatte Tuberkulose, und Löcher in der Lunge, galt aber als geheilt.
Meine Oma will bis heute nichts erzählen, wenn ich etwas über ihn wissen will. Sie sagt: "Es war doch Krieg. Es gab doch keine Männer." Sie meint, es gab keine deutschen Männer nach dem Krieg.
Meine Großmutter zog nach Süddeutschland, weil ihr dort eine Arbeit vermittelt wurde. Sie lernte einen Mann kennen, den sie heiratete. Ihre Tochter, meine Mutter hatte Asthma und kam ins Heim.
Ich habe lange Zeit nichts gewußt von der Vorgeschichte der Familie mütterlicherseits. Es wurde nie darüber gesprochen. Bis meiner Tante einmal im Streit ausrutschte, ich solle doch still sein, meine Mutter sei ja noch nicht mal eine richtige Deutsche (dabei waren ihre Eltern selber aus der Tschechoslowakei).
Wenn ich auf der Straße Oma begegnete und ihr Mann war dabei, ging er auf die andere Straßenseite. Ich durfte sie nicht besuchen, weil er das nicht wollte. Mir ist das erst vor ein paar Jahren aufgefallen, daß es eigentlich nicht normal ist, daß man seine Oma nicht besuchen darf. Ich kannte es ja nicht anders.
Würde mir heute der Mann meiner Großmutter auf der Straße begegnen, wäre ich diejenige, die die Straßenseite wechselt.

Dienstag, 31. Juli 2007

Die Stammheim - Protokolle

... galten als vernichtet. Durch Recherchen für die ARD Mitschnitte des RAF-Prozesses in Stammheim sind sie wieder aufgetaucht. Worden.

Spiegel, 31.7.2007

Samstag, 7. Juli 2007

Notiz

Als ich mit dem Fahrrad losfahren will, fängt es an zu regnen.
Einer dieser unzähligen Schauer in diesem Sommer.
Ich habe keine Lust, nochmal nach oben zu gehn, um den Schirm zu holen.
Zumal es schon wieder hell wird, dort, wo die dunklen Wolken herkommen.
Ich stelle mich nah an die Mauer, unter das vorspringende Dach unseres Hauses.
Ein älterer Mann sucht ebenfalls Schutz vor dem Regen.
Ganz nah geht er an den Mauern der Häuser entlang.
Er kommt mir entgegen.
Der Mann wird sich ein Stück von unserem Haus entfernen müssen, wenn er an mir vorbei will.
Im Vorbeigehn bleibt er einen Moment lang stehn.
Er sagt: "Wie schnell sich det rumspricht, daß et regnet, wa?"

Dienstag, 29. Mai 2007

Hinter den vielen Worten spricht leise das Denken

Weser-Kurier, 16. November 2003

Hinter den vielen Worten spricht leise das Denken
Im Neuen Museum Weserburg kann man ab morgen "Die Sprache des Menschen" von Abraham David Christian vernehmen.

Die Philosophen träumen seit Jahrhunderten von einer "Mathesis universalis", einer Sprache, die das Wissen der ganzen Menschheit allen zugänglich und überprüfbar macht. Gottfried Wilhelm Leibniz war sich sicher, dies würde nicht nur "der Verbindung zwischen mehreren Völkern" dienen: "Überdies wird diese Sprache eine vortreffliche Eigenschaft haben, nämlich den Ignoranten den Mund zu schließen." Und wer wünschte sich das nicht.
Wenn der Plastiker und Zeichner Abraham David Christian erklärt, seine Kunst, beginne dort, "wo die Möglichkeit der verbalen Äußerung endet: hinter der Sprache", dann trägt dies einen Schimmer jener Hoffung auf die universale Kommunikationsmaschine. Seine Skulpturen besitzen - anders als die Zeichnungen - eine geometrische Geschlossenheit, die sie auf fast sakrale Weise zu abstrakten Zeichenindices macht. Dies zeigt sich besonders in den Skulpturengruppen, die die horizonte Rotationssymmetrie ihrer einzelnen Segmente mit einer extremen vertikalen Schichtung der Elemente vereint. Ihre elementaren Formen wirken dabei zu vertraut, als dass man sich nicht über ihre merkwürdigen Kombinationen wundern könnte.
An diesem Punkt unterscheidet sich denn auch Christians Kunst grundlegend von der Mathesis des Herrn Leibniz. Als Anbieter von Interpretationen widersetzt sich der bildende Künstler der Eindeutigkeit in der Aufzeichnung. Die Symbole des Menschen, denen Christian auf seinen vielen Reisen durch die ganze Welt begegnet, lassen darauf schließen, dass in den unterschiedlichen Kulturen Strukturen des Denkens miteinander korrespondieren. Diese endgültig erfasst zu haben, kann sich aber weder er noch der Betrachter je sicher sein. Das Neue Museum Weserburg reiht in einer großen monografischen Schau ab morgen Werke Abraham David Christians aus den vergangenen 25 Jahren auf. Bislang waren nur einzelne seiner Werke in Sammelausstellungen der Weserburg zu sehen, und gerade die jetzige Ballung neuer Variationen von Formsymbolen erleichtert es, Christians sympathisch größenwahnsinniges Anliegen zu verstehen, wenn er die Sprache des Menschen zeigen will. Denn natürlich weiß jemand wie Abraham David Christian, der Ateliers in Deutschland, den USA und Japan hat, dass es gar viele Sprachen gibt. Seine Objekte vermeiden aber gerade deswegen die synkretistische Anhäufung heiliger Symbole oder archetypischer Formen.
Sie unternehmen im Grunde sogar deren genaues Gegenteil. Christians dreidimensionale Konstruktionen aus Papier und Pappe reproduzieren eine Grammatik von Kommunikation nach dem Abzug jedes kulturell Besonderen. Ein Kreis, wie er als Kopf in einer Skulptur der Reihe "Der heilige Mensch" auftaucht, ist eben nicht mehr Symbol der Sonnen wie in südamerikanischen oder altägyptischen Lektüresystemen, die er vor Ort studierte. Aber der überall in Glaubenshieroglyphen verwendete Kreis lässt sich als Paradigma für die Idee von universeller Selbstbestimmtheit und absoluter Vollkommenheit wiederfinden - in manchen Kulturen nennt man dies Gott.
Besonders spürbar wird diese grammatikalische Beschreibung Christians bei den größeren Skulpturen, die in einem eigenen Raum wie in einer Kapelle kombiniert wurden. Das kühle Weiß von Objekt und Umraum bringt eine religiöse Weihe, ohne dass in der Formensprache deutlich würde, wer oder was hier anzubeten sei. Die Altäre verweisen nicht auf eine definierte Transzendenz, sondern auf den Akt der Verweisung ins Jenseits selbst.
Dieses ähnelt frappant den Transformationssystemen von Mythen, die Claude Lévi-Strauss im "wilden Denken" erkannte. Legenden und Riten äußern sich in verschiedenen Weltgegenden und Kulturen zwar auf unterschiedliche Weisen, doch sie alle lassen sich als Varianten bestimmter Grundmotive erkennen, die wie durch einen Algorithmus umgeformt wurden. Christians Zeichenkonglomerate sind in Plastik gebrachte Symbole solcher Formeln der Strukturbildung. Und auch wenn sie weniger eindeutig in der Lesbarkeit sind, als sich Herr Leibniz dies für eine "Mathesis" wünschte, so können doch auch sie dem Ignoranten den Mund schließen, wie er einst hoffte. Denn beim Gang durch Abraham David Christians Skulpturenpark lässt sich erahnen, wie viele Sprachen sich darum bemühen, dasselbe zu sagen. Und wie einfach es ist, sich nicht zu verstehen.

Von Stephan Cartier

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Unvermeidliches Begleitsymptom: Versucht.. .
Unvermeidliches Begleitsymptom: Versucht man modernem...
Sun-ray - 2009-08-10 20:15
Das isolierte Ich leidet...
Das isolierte Ich leidet endlos, "weil das Leben Schmerz...
M_F - 2009-08-09 21:44
Laurie Anderson - The...
In 1974, I went to Mexico to visit my brother who was...
M_F - 2009-07-28 10:27
Notiz
August Sander hat eine Reihe von Köpfen zusammengestellt,...
M_F - 2008-09-03 10:29
Notiz
Hatte man vordem vielen vergeblichen Scharfsinn an...
M_F - 2008-07-31 22:07

Suche

 

Status

Online seit 6554 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 2009-08-10 20:15

Web Counter-Modul