Dienstag, 29. Mai 2007

Hinter den vielen Worten spricht leise das Denken

Weser-Kurier, 16. November 2003

Hinter den vielen Worten spricht leise das Denken
Im Neuen Museum Weserburg kann man ab morgen "Die Sprache des Menschen" von Abraham David Christian vernehmen.

Die Philosophen träumen seit Jahrhunderten von einer "Mathesis universalis", einer Sprache, die das Wissen der ganzen Menschheit allen zugänglich und überprüfbar macht. Gottfried Wilhelm Leibniz war sich sicher, dies würde nicht nur "der Verbindung zwischen mehreren Völkern" dienen: "Überdies wird diese Sprache eine vortreffliche Eigenschaft haben, nämlich den Ignoranten den Mund zu schließen." Und wer wünschte sich das nicht.
Wenn der Plastiker und Zeichner Abraham David Christian erklärt, seine Kunst, beginne dort, "wo die Möglichkeit der verbalen Äußerung endet: hinter der Sprache", dann trägt dies einen Schimmer jener Hoffung auf die universale Kommunikationsmaschine. Seine Skulpturen besitzen - anders als die Zeichnungen - eine geometrische Geschlossenheit, die sie auf fast sakrale Weise zu abstrakten Zeichenindices macht. Dies zeigt sich besonders in den Skulpturengruppen, die die horizonte Rotationssymmetrie ihrer einzelnen Segmente mit einer extremen vertikalen Schichtung der Elemente vereint. Ihre elementaren Formen wirken dabei zu vertraut, als dass man sich nicht über ihre merkwürdigen Kombinationen wundern könnte.
An diesem Punkt unterscheidet sich denn auch Christians Kunst grundlegend von der Mathesis des Herrn Leibniz. Als Anbieter von Interpretationen widersetzt sich der bildende Künstler der Eindeutigkeit in der Aufzeichnung. Die Symbole des Menschen, denen Christian auf seinen vielen Reisen durch die ganze Welt begegnet, lassen darauf schließen, dass in den unterschiedlichen Kulturen Strukturen des Denkens miteinander korrespondieren. Diese endgültig erfasst zu haben, kann sich aber weder er noch der Betrachter je sicher sein. Das Neue Museum Weserburg reiht in einer großen monografischen Schau ab morgen Werke Abraham David Christians aus den vergangenen 25 Jahren auf. Bislang waren nur einzelne seiner Werke in Sammelausstellungen der Weserburg zu sehen, und gerade die jetzige Ballung neuer Variationen von Formsymbolen erleichtert es, Christians sympathisch größenwahnsinniges Anliegen zu verstehen, wenn er die Sprache des Menschen zeigen will. Denn natürlich weiß jemand wie Abraham David Christian, der Ateliers in Deutschland, den USA und Japan hat, dass es gar viele Sprachen gibt. Seine Objekte vermeiden aber gerade deswegen die synkretistische Anhäufung heiliger Symbole oder archetypischer Formen.
Sie unternehmen im Grunde sogar deren genaues Gegenteil. Christians dreidimensionale Konstruktionen aus Papier und Pappe reproduzieren eine Grammatik von Kommunikation nach dem Abzug jedes kulturell Besonderen. Ein Kreis, wie er als Kopf in einer Skulptur der Reihe "Der heilige Mensch" auftaucht, ist eben nicht mehr Symbol der Sonnen wie in südamerikanischen oder altägyptischen Lektüresystemen, die er vor Ort studierte. Aber der überall in Glaubenshieroglyphen verwendete Kreis lässt sich als Paradigma für die Idee von universeller Selbstbestimmtheit und absoluter Vollkommenheit wiederfinden - in manchen Kulturen nennt man dies Gott.
Besonders spürbar wird diese grammatikalische Beschreibung Christians bei den größeren Skulpturen, die in einem eigenen Raum wie in einer Kapelle kombiniert wurden. Das kühle Weiß von Objekt und Umraum bringt eine religiöse Weihe, ohne dass in der Formensprache deutlich würde, wer oder was hier anzubeten sei. Die Altäre verweisen nicht auf eine definierte Transzendenz, sondern auf den Akt der Verweisung ins Jenseits selbst.
Dieses ähnelt frappant den Transformationssystemen von Mythen, die Claude Lévi-Strauss im "wilden Denken" erkannte. Legenden und Riten äußern sich in verschiedenen Weltgegenden und Kulturen zwar auf unterschiedliche Weisen, doch sie alle lassen sich als Varianten bestimmter Grundmotive erkennen, die wie durch einen Algorithmus umgeformt wurden. Christians Zeichenkonglomerate sind in Plastik gebrachte Symbole solcher Formeln der Strukturbildung. Und auch wenn sie weniger eindeutig in der Lesbarkeit sind, als sich Herr Leibniz dies für eine "Mathesis" wünschte, so können doch auch sie dem Ignoranten den Mund schließen, wie er einst hoffte. Denn beim Gang durch Abraham David Christians Skulpturenpark lässt sich erahnen, wie viele Sprachen sich darum bemühen, dasselbe zu sagen. Und wie einfach es ist, sich nicht zu verstehen.

Von Stephan Cartier

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