Samstag, 26. Mai 2007

Marta

Aus dem CD-Player höre ich "Girl from Ipanema" von Astrud Gilberto.
Marta wird wütend.
Dämlich lispelnd singt sie mit.
Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt.
Die Gastgeberin erschrickt.
Eigentlich wollte sie Marta mit den Bossa Nova Rhythmen das Gefühl geben, sich bei ihr "wie zu Hause" zu fühlen.

Freitag, 11. Mai 2007

Sergej

Ich treffe Sergej an der U-Bahnstation Senefelder Platz. Er verkauft Zeitungen. Zwei Stapel liegen links neben dem Eingang auf dem Boden. Sergej lebt seit 9 Jahren in Berlin. Seine Familie wurde nach dem 2.Weltkrieg nach Sibirien deportiert.
"Als ich nach Deutschland kam, war ich fast taub. Zwei mal Grippe und dann waren die Ohren kaputt. Aber hier haben sie mich wieder renoviert." Er lacht. "Als ich meine Frau in Russland besucht habe, habe ich immer gesagt: Schrei doch nicht so! Ich höre doch gut. Meine Frau hat dann gesagt: Jetzt nach 30 Jahren soll ich mich umstellen?"
Sergej arbeitete, als er nach Deutschland kam, auf dem Bau. "Das war eine gute Arbeit. Ich habe gutes Geld verdient. Mein Chef meinte, Sergej, diese Arbeit hast du bis zu deiner Rente. Aber die Firma hat pleite gemacht. Und jetzt verkaufe ich Zeitungen für ein paar Cent."
"In meiner kleinen Stadt in Russland sind viele Deutsche." Sergej lacht. "Sie treffen sich immer und reden deutsch und jodeln zusammen. Deutsch sprechen fällt mir schwer. Die Grammatik. Es fällt mir wirklich schwer. Ich habe wirklich einen guten Job gehabt beim Bau. Mein Onkel und meine Onkelin waren auch hier in Berlin. Sie sind wieder zurückgegangen.

Mittwoch, 2. Mai 2007

Zähne zeigen

Das Mädchen ist drei Jahre alt. Breitbeinig steht es vor der kalkweissen Hauswand. Es trägt ein rotes Kleid. Das Kleid ist zu kurz. Das Mädchen trägt weiße Strumpfhosen. Ein Mann schießt ein Bild aus der Vogelperspektive. Das Kind lacht nicht. Es knickt etwas ein, in den Knien. Breitbeinig steht es da: vor der Wand. Sein Pony ist schief geschnitten. Das Haar zerzaust. Der Mann schießt nur ein mal.
Die Hexe ist froh, dass das Mädchen wieder ißt. Sie schenkt ihm ein silbernes Kinderbesteck. Messer, Gabel. Die Spitze des Messers ist abgerundet. Auf den Griffen sind silberne Rosen abgebildet. Die Hexe hat Haare, wie eine Hexe!
Ruth und ihre Schwester schieben den Essenswagen aus der Großküche den steilen Berg hinauf. Boris und ich dürfen auf dem Wagen sitzen. Die Töpfe sind heiß. Sie sind schwer. Es riecht nach Kartoffelsuppe. Nach dem Essen werfe ich Boris Dreck ins Gesicht. Eine Frau schießt das Bild aus der Froschperspektive. Boris und ich rutschen, auf dem Hosenboden, den Dreckberg hinunter. Ruth trägt Rollschuhe. Sie hält sich fest am Gepäckträger. Die Stützräder machen einen Höllenlärm. Die Stützräder sind aus Plastik. Das Fahrrad ist blau.
Bergauf: ich trete fester in die Pedale. "Schneller, schneller!" ruft Ruth. Ein kleiner Abhang. Eine Wand. Roter Klatschmohn wächst auf den Wiesen. Margariten schmecken bitter. Das Mädchen ist eine Kuh. Es frißt sich satt, auf der Weide. Bis zum Erbrechen.

Noch bevor es richtig kalt wird, werden sämtliche Tiere im Wildpark abgeschlachtet. Sie würden sonst jämmerlich erfrieren. Überall liegen Tierleiber mit abgehackten Beinen. Drei Miniaturwidder traben mir, auf dem Weg zum Hafen, im Gleichschritt entgegen. Der Weg ist matschig. Am Hafen werden Giraffen, mit einem Kran, vom Meeresgrund, aus dem Wasser gezogen. An tausenden von winzigen Haken, die sich durch die Haut bohren, werden sie auf Schiffe verladen und nach Afrika transportiert. Einer gelingt es, sich zu befreien. Sie sagt: "Ich spreche deutsch."

Montag, 30. April 2007

Notiz

Hieronymus_Bosch_-_Der_Garten_der_Lueste-2C_Mitteltafel_des_Triptichons

Als Kind habe ich mir gerne die Bilder von Hieronymus Bosch angeschaut. Manchmal blätterte ich stundenlang in dem Kunstbuch meiner Eltern, und habe versucht zu deuten, was auf diesen Bildern eigentlich passiert. Es ist mir nicht gelungen, tatsächlich einen Handlungszusammenhang herzustellen. Das Bild blieb verschlossen. Es blieb Materie. Materie, die ständig auflöst, sobald man versucht, etwas zu greifen.

Paul Celan - Ein Blatt, baumlos

Ein Blatt, baumlos
für Bertolt Brecht:

Was sind das für Zeiten,
wo ein Gespräch
beinah ein Verbrechen ist,
weil es soviel Gesagtes
mit einschließt?

Hieronymus Bosch

carrying

Paul Celan - Todesfuge

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng

Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt
er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau
stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen
Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland

dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith

Donnerstag, 15. Februar 2007

Untitled / Cy Twombly

Untitled

Notiz

Andy Warhol war ein Höhepunkt des 20. Jahrhunderts, weil er der einzige war, der wirklich dramatisieren konnte. Er bringt die Simulation dahin, ein weiteres Drama zu sein, eine weitere Dramaturgie: etwas Dramatisches zwischen zwei Phasen, der Übergang in das Bild und die absolute Äquivalenz aller Bilder. Sein Prinzip bestand darin, zu sagen: »Ich bin eine Maschine, ich bin nichts«. Seitdem wiederholen alle dasselbe, wenn auch voller Selbstgefälligkeit. Er dachte das radikal: »Ich bin nichts und ich funktioniere.« »Ich bin auf allen Ebenen einsetzbar, auf künstlerischer, kommerzieller Ebene und in der Reklame...« »Ich bin die Einsatzbereitschaft selber!«

(...)

Warhol bleibt für mich ein Begründer der Moderne [was eher paradox klingt, da man ihn eher für einen Zerstörer hält; aber es gibt bei ihm eine Art Fröhlichkeit, die weder selbstmörderisch noch melancholisch ist, weil sie nämlich letzten Endes so ist: cool, und sogar noch mehr als cool, völlig losgelöst. Das ist der maschinenhafte Snobismus, und ich mag diese Provokation angesichts der ganzen ästhetischen Moral besonders gern]. Warhol hat uns von der Ästhetik und von der Kunst befreit...


(Jean Baudrillard im Gespräch mit Françoise Gaillard, Mai 1990)

Donnerstag, 1. Februar 2007

Die soziale Plastik

Da sich die Wahrnehmung der Welt je nach Kulturkreis unterscheidet, und permanent im Wandel ist, ändert sich auch der Kunstbegriff im Laufe der Geschichte ständig und reagiert auf neue gesellschaftliche, technische und geistesgeschichtliche Gegebenheiten.
Nach Ludwig Wittgenstein und dessen Familienähnlichkeitstheorie kann man ein Kunstwerk identifizieren, indem man wesentliche einzelne Merkmale eines Werkes auch an anderen Kunstwerken feststellt, die somit als Menge aller Kunstwerke ein Netzwerk von Ähnlichkeiten bilden. Ohne daß notwendigerweise alle gemeinsam ein bestimmtes Merkmal aufweisen würden.
Die Bindung des Kunstwerkes an den Künstler selbst ist in der Gegenwart dabei wesentlich, oder aber die Art und Weise des Verstehens, sowie das auf ein solches Verständnis hinarbeitende Schaffen.
Der erweiterter Kunstbegriff, wie er sich im Laufe des letzten Jahrhunderts heraus entwickelte, hat dabei in erster Linie die Aufgabe, auf vielen Feldern tätig zu werden, die zum allgemeinen Kunstverständnis noch nicht oder nicht mehr zugerechnet werden. Der Begriff wurde vor allem durch Joseph Beuys' Verwendung und seiner Formulierung der sozialen Plastik geprägt. Dabei können reine Ideen ebenso zu Kunst werden, wie technisch bewußt Unperfektes oder Kunsthandwerkliches. Ebenso werden politisches Handeln und soziologische Forschung als ein Feld für Kunst betrachtet oder wissenschaftliche Experimente auf künstlerisch-philosophische Inhalte untersucht.
Die soziale Plastik, bzw. die soziale Skulptur fordert ein kreatives Mitgestalten an der Gesellschaft. Sie umfasst dabei sämtliche Lebensbereiche des Menschen.
Das traditionelle Kunstverständnis, in dem der Künstler als Schöpfer von Kunstwerken gilt, wird auf folgende menschliche Tätigkeiten ausgedehnt: jeder einzelne gestaltet die Gesellschaft, deren Kultur, Politik und Ökologie und formt sie plastisch in einem kunsthandwerklichen Sinne zum Wohle der Gemeinschaft.
Der Mensch erschafft Kunstwerke oder stellt Ideen zu deren Schaffung bereit. Jeder Mensch ein Künstler. Besondere Fähigkeiten, so Beuys, seien in diesem Sinne nicht erforderlich, da er davon ausgeht, dass alle zum Formen der sozialen Plastik notwendigen Fähigkeiten - Spiritualität, Offenheit, Kreativität und Phantasie, Einstellungen also, die der traditionelle Künstler eher gegenüber seinem Sujet hegt - in jedem Menschen vorhanden sind. Diese Fähigkeiten müssten nur erkannt, ausgebildet und gefördert werden.
Der Sinnzusammenhang der Sozialen Plastik erklärt sich somit aus einem sozialen Handeln und Verhalten, dem Allgemeinwohl betreffend und dem Begriff Plastik, als ein modellierfähiges und formbares Gebilde, das visuell, taktil, olfaktorisch, akustisch, thermisch erfahrbar ist. Und das mit der Wahrnehmung der Gesellschaft gleichzusetzen ist.
Grundlage der sozialen Plastik ist der Mensch selbst, der durch Gedanken und Sprache soziale Beziehungen und Strukturen entwickelt. Diese Entwicklung der Gesellschaft verstand Beuys als einen kontinuierlichen kreativen Prozess. Die Aufgabe der Kunst sei es, dem Menschen diesen Prozess bewußt zu machen.

.

Das wirtschaftliche Leben kann nur gedeihen, wenn es als selbständiges Glied des sozialen Organismus nach seinen eigenen Kräften und Gesetzen sich ausbildet, und wenn es nicht dadurch Verwirrung in sein Gefüge bringt, daß es sich von einem anderen Gliede des sozialen Organismus, dem politisch wirksamen, aufsaugen läßt. (Joseph Beuys)

Dienstag, 30. Januar 2007

Notiz

Ich habe keine Ahnung, wie diese Insel heißt. Sie scheint aus einem einzigen Berg zu bestehen, umgeben von tiefblauer See mit starkem Wellengang. Am unteren Saum des Berges gräbt sich ein Strom durch das Erdreich. Es kann nicht ganz ungefährlich sein, durch diesen Fluß zu schwimmen, denke ich, als ich Männer sehe, die mit kräftigen Zügen versuchen das Wasser zu teilen. Ganz oben auf dem Berg steht ein weiß getünchtes Haus, mit Fenstern ohne Scheiben. In seinem Innern sind Holzbänke. Eine Frau, die neben mir sitzt, gestikuliert, fast beiläufig mit einem kleinen, getrockneten Krokodil in der Hand. Sie sagt: einen Fernseher brauchen wir hier keinen!

Freitag, 8. Dezember 2006

Notiz

Es ist warm. Zu warm für den Monat Dezember.

Auf der Eislaufbahn am Alexanderplatz fahren Schlittschuhläufer durch Pfützen.

"Das Eis wird in 5 Minuten wieder sauber gemacht. ", sagt ein Mann durch's Mikrophon.

Die Eisfläche ist weiß.

Ein Pantomime steht bewegungslos auf seinem Podest.

Er trägt einen schwarzen Anzug; und einen schwarzen Zylinder.

Als ihm jemand Geld in den Koffer wirft, verbeugt er sich mit einer ausladenden Geste.

Am Abend wird er seine Sachen zusammenpacken und - vielleicht - nach Westen gehn.

Ein wenig schneller leben.

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